Rezension | Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry | Rachel Joyce

Die unwahscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
von Rachel Joyce


Verlag: Fischer Verlag / Krüger
Übersetzung: Aus dem Englischen von Maria Andreas
Genre: Roman, Gegenwartsliteratur
Ausstattung: 378 Seiten, Hardcover
Erscheinungsdatum:16. Mai 2012
ISBN: 978-3-8105-1079-2


Der pensionierte Harold Fry ist zutiefst erschüttert, als einer eines morgens einen Abschiedsbrief seiner ehemaligen Arbeitskollegin Queenie Hennessy erhält. Queenie leidet an Krebs und verbringt ihre restlichen Tage in einem Hospitz in Berwick-upon-Tweed.
Harold macht sich auf zum nächsten Briefkasten, um einen Brief für sie einzuwerfen. Ihm fallen nicht viele Worte ein, aber er möchte sich trotzdem gerne von ihr verabschieden. Aber er läuft am ersten Briefkasten vorbei, am zweiten auch ... beim dritten Briefkasten reift eine vage Idee in seinem Kopf. Eine junge Angestellte in der Tankstelle bringt zuletzt den Stein ins Rollen, denn ihre an Harold gerichteten Worte berühren ihn tief:
"Man muss glauben. Meine ich jedenfalls. Es geht gar nicht um Medizin und das ganze Zeug. Man muss daran glauben, dass der Mensch wieder gesund werden kann. Unser Geist ist viel größer, als wir begreifen. Wenn wir fest an etwas glauben, können wir alles schaffen." (Seite 23)
Und so steckt Harold seinen Brief wieder tief in die Jackentasche zurück und läuft los. Er macht sich auf den Fußweg quer durch England bis hin zu Queenie in Berwick-upon-Tweed. Denn aufgrund er Worte des jungen Mädchens ist er davon überzeugt: So lange er läuft, wird Queenie leben! Über 1000 km in 87 Tagen legt er zurück. Der Weg wird zur Pilgerreise für Queenie - aber auch für Harold selbst, der sich selbst und auch sein Leben wieder findet....

Rachel Joyce legt mit "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" einen außergewöhnlichen und vor allem emotional tief berührenden Roman vor, der Seinesgleichen sucht und der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite auf eine sehr gefühlvolle Art und Weise fesselt. Harolds Pilgerreise wird zur Pilgerreise des Lesers, jeden Kilometer geht man in Gedanken mit Harold, teilt sein Leid mit ihm und genießt die schönen Momente und Augenblicke mit ihm. Man taucht regelrecht in die Geschichte ein und wird ein Teil dessen. 

Der Schreibstil ist sehr angenehm zu lesen. Schöne Beschreibungen der Natur und bildreiche Umschreibungen der Geschehnisse sorgen für angenehmes Lesen, denn die Thematik wird dadurch sehr aufgelockert bzw. abgerundet. Der Roman ist aus der Sicht des Erzählers geschrieben und ist von zwei Handlungssträngen durchzogen. Der erste Handlungsstrang dreht sich um den Rentner Harold Fry. Wir erfahren viel über sein Leben, das leider von vielen Schattenseiten geprägt ist. Viele schmerzliche Erfahrungen, die bis in seine Kindheit zurück reichen, belasten Harold nun im Alter mehr denn je - denn er hat sie nie verarbeitet. Dafür ist er viel zu sehr britisch-zurückhaltend erzogen worden und redselig in Hinsicht auf seine eigenen Gefühle ist er gleich dreimal nicht. Die richtigen Worte wollen ihm nie so recht einfallen, was auch sein Familienleben nicht einfach macht. Zu viel Unausgesprochenes, zu viel Unerledigtes und zu wenig Nähe und Emotionen treiben Keile in die Familie. Zu seinem Sohn Davis, der schon in früher Kindheit ein Grübler und Denker war, findet er keinen Bezug, er kann nicht recht in die Vaterrolle schlüpfen. Und seine Frau Maureen zieht sich von ihm zurück, sie entfremden. Und Harold scheint diese Entwicklung auch einfach akzeptiert zu haben. Bis zu seinem Fußmarsch ... Der zweite Handlungsstrang handelt von eben jener Ehefrau Maureen. Sie erweckt zu Beginn einen recht unsympathischen Eindruck, der aber von ihrer Verbitterung, ihrer Verzweiflung und ihrem Kummer her rührt. Auch sie hat vieles verdrängt, was nun über sie hereinbricht und das nun verarbeitet werden will - aber es öffnet ihr auch die Augen und sie beginnt seit langem mal wieder, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Und plötzlich erscheint sie auch viel sympathischer. Von Queenie erfahren wir nur auch Harolds Gedanken. Eine Frau, die "ihren Mann gestanden" hat. Zu jenen Zeiten einen Job in der Männerwelt einer Brauerei zu haben, braucht viel Stärke, Zuversicht und Tapferkeit. Sie hat ihren Job letzten Endes für Harold geopfert, was auch ein großer Freundschaftsbeweis war. Erst der Krebs hat sie in die Knie gezwungen, den Männern konnte sie immer trotzen. Auf Harolds Pilgerreise wird uns aber auch der ständige Lauf der Menschheit vor Augen geführt.

Einer beginnt etwas ... andere "bekommen Wind" von der Sache und schließen sich an - und eine neue Gemeinschaft entsteht. Eine Gemeinschaft, zusammengewürfelt aus den unterschiedlichsten Charakteren. Was wiederum zur Folge hat, dass es Unstimmigkeiten, Streiterein und Meinungsverschiedenheiten gibt. Splittergruppen werden gegründet und Machtgierige versuchen, das Zepter an sich zu reißen und einige bleiben einfach zurück. Willkommen Politik - selbst auf Harolds Pilgerreise ist sie zu finden.
Ein Kapitel, dass mich erschüttert hat. Die "Vermarktung" von Harold, das Einmischen der anderen in seine Reise...das Einmischen von Menschen, die gar nicht recht wussten, um was es überhaupt geht. Viele fanden vielleicht ihr eigenes, persönliches Seelenheil, aber sie raubten Harold seine Kräfte. Ganz anders die Menschen, denen Harold zufällig begegnete, wie zum Beispiel die Ärztin, bei der Harold übernachten durfte oder der Fremde, der ihm seine Geschichte im Bahnhofs-Café erzählte - und natürlich das junge Mädchen von der Tankstelle. Diese Menschen bereicherten und beeinflussten Harold auf positive Weise.

Mein Fazit: 

Harold Fry´s Pilgerreise hat mich emotional tief berührt! In Gedanken bin ich mitgelaufen, habe mitgelitten, mitgetrauert - aber auch mitgelacht.
Ein ergreifendes Buch über Glauben und Hoffnung, über Freundschaft und Liebe, über Vergebung und über Selbstfindung. Ein Buch mit Tiefgang, ohne zu schwer zu werden.
Eine absolute Leseempfehlung! "Daumen hoch"

Rezensiert von Alexandra

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